Allgemein International Technisches Wikibase

Enslaved.org erzählt mit Wikibase die Geschichten des Sklavenhandels

16. Februar 2021
Elisabeth Giesemann
Details of artist on Google Art Project, Charles Landseer - View of Sugarloaf Mountain from the Silvestre Road - Google Art Project, als gemeinfrei gekennzeichnet, Details https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Charles_Landseer_-_View_of_Sugarloaf_Mountain_from_the_Silvestre_Road_-_Google_Art_Project.jpg
Allgemein International Technisches Wikibase

Enslaved: Peoples of the Historical Slave Trade verbindet Data Science und Black History. Die Plattform enthält historische Daten über die Menschen, die direkt vom transatlantischen Sklavenhandel betroffen waren. Die Daten stammen aus Volkszählungsberichten, Tauf-, Schifffahrts- und Verkaufsunterlagen. Das Digital Humanities Projekt wird von der Michigan State University durchgeführt und von der Andrew W. Mellon Foundation unterstützt. Enslaved.org nutzt Wikibase, die freie Datenbank-Software von Wikimedia Deutschland, um verschiedene historische Datenbanken in einer Linked-Open-Data-Plattform miteinander zu verknüpfen.

Elisabeth Giesemann sprach mit Professor Dean Rehberger und Professor Daryle Williams über ihre Motivation und die Ziele hinter Enslaved.org.

Elisabeth Giesemann: Bitte stellen Sie sich und Ihr Forschungsinteresse kurz vor. 

Dean Rehberger: Ich bin der Direktor von MATRIX, einem Zentrum für digitale Geistes- und Sozialwissenschaften, und darüber hinaus außerordentlicher Professor im Fachbereich Geschichte an der Michigan State University. Neben der Leitung von MATRIX interessiere ich mich dafür, wie digitale Technologien für historische und humanistische Arbeit eingesetzt werden können.

Daryle Williams: Ich lehre an der University of Maryland am Fachbereich für Geschichte. Mein Forschungsinteresse gilt vor allem der brasilianischen Geschichte des 19. Jahrhunderts. Bei Enslaved.org bin ich einer der Co-Principal Investigators. 

Elisabeth Giesemann: Können Sie uns ein wenig über die ursprüngliche Idee hinter Enslaved.org erzählen?

Dean Rehberger: Schon vor Enslaved.org haben wir an einer Website namens Slave Biographies [The Atlantic Database Network] gearbeitet: Wir sammelten und analysierten historische Aufzeichnungen über das Leben von versklavten Menschen. Das Problem war, dass es so viele verschiedene Softwares, Datenformate und Tools gab. Wir hatten Zugang zu vielen Daten, aber sie lagen in Silos und waren schwer zu bearbeiten. Wir wollten die verschiedenen Projekte, die sich im Laufe der Zeit entwickelt haben, miteinander verbinden und sie einer größeren Community zugänglich machen. 

Daryle Williams: Ein großes Problem in der Geschichtsforschung ist, dass die Sklaverei Namen und Schicksale ausgelöscht und Wissen zerstört hat. Es ist unmöglich, dieses Wissen vollständig wiederherzustellen. Allerdings gibt es Millionen von Aufzeichnungen über die Millionen von Menschen, die versklavt wurden, und viele sind in diesen Aufzeichnungen namentlich genannt. Wir versuchen zu systematisieren und die Schicksale zu rekonstruieren.

Außerdem wollen wir so die gesellschaftliche und politische Diskussion voranbringen: “Was bedeutet es, die Versklavten als benannte Individuen zu sehen? Was können wir tun, um ihre Namen buchstäblich auszusprechen?”

Elisabeth Giesemann: Sie arbeiten mit historischen Daten aus dem transatlantischen Sklavenhandel. Welche Schwierigkeiten gibt es mit diesen Daten, wenn man sie in eine Datenbank integriert? 

Dean Rehberger: Eine Schwierigkeit ist die Frage, wie man geografischen Raum in der Geschichtswissenschaft definiert, denn Grenzen verschieben sich. Ist es ein Ort, oder ist es ein Ereignis, das nur in einem bestimmten Zeitraum existiert? Sobald man anfängt, diese Fragen zu beantworten, ergeben sich viele andere Datenprobleme. Wir haben all diese Daten in handschriftlichen Dokumenten, die wir digitalisieren müssen. Oder wir haben Daten auf Material, das mit der Zeit verfällt und droht zu verschwinden. Also müssen wir diese Originaldaten erhalten und erfassen.

Daryle Williams: Außerdem sind viele der in den Archiven vorhandenen Informationen eindeutig ein Artefakt der kolonialen Sklaverei und aus der Perspektive des Sklavenhalters geschrieben. Wir müssen uns fragen, ob und wie wir sie als Daten reproduzieren sollten. Die Namen ändern sich in verschiedenen Dokumenten, und es gibt unzählige Schreibvarianten je nach Zeit, Sprache und Region. Wir haben Register, die die ethnischen und nationalen Bezeichnungen der Menschen auflisten: Mulatto, Quiçama, Kongo. Sie haben über Raum und Zeit hinweg verschiedene Bedeutungen. 

Elisabeth Giesemann: Gibt es einen akademischen Peer-Review-Prozess für diese Fragen? 

Daryle Williams: Unsere Ontologie ist ein Produkt von wissenschaftlichen Kommunikationsprozessen und Debatten; es gibt viele Auseinandersetzungen über die historischen Kategorien. Es gibt grundlegende Kategorien: Name, Geschlecht, Gesundheitszustand, aber auch der Freiheitsstatus – Menschen, die nur bedingt frei waren und solche, die nicht frei waren. Akzeptieren wir das nach heutigem Standard? Nein, aber die historischen Aufzeichnungen und Erfahrungen sagen uns, dass dies real war. Die Daten müssen das berücksichtigen, wenn wir über das Leben der Versklavten sprechen.

Dean Rehberger: Wir haben es immer mit Unsicherheiten zu tun. Es gibt oft zwei sich widersprechende Aufzeichnungen, aber sie sind trotzdem gültig. Das wird noch dadurch verschlimmert, dass die meisten Aufzeichnungen von den Kolonisatoren erstellt wurden, die den Menschen Namen und Beschreibungen gaben. Diese Aufzeichnungen sind oft inkonsistent, manchmal widersprüchlich. Wir möchten, dass die Nutzer*innen von Enslaved.org diese Aufzeichnungen lesen und den Sinn dahinter erschließen. Wir wollen den Benutzer zurück zur Originalquelle schicken. 

Als Historiker sehe ich unsere Aufgabe eher darin, Fragen zu stellen, als Antworten zu geben. Wir haben nicht alle Lösungen. Das ist auch ein Grund, warum wir uns für die Arbeit mit Linked Open Data und speziell Wikibase entschieden haben. Es lässt die Komplexität zu, die Teil unserer Arbeit ist.

Daryle Williams: Wir sind nicht neutral, und die Beitragenden von Enslaved.org sind es auch nicht. Es gibt in allem ein elaboriertes Argument, sogar in einer Tabelle. In meiner Forschung arbeite ich mit dem, was allgemein als so genannte “Vermisstenanzeigen”  [englisch: runaway adds] bezeichnet wird. Aber diese Bezeichnung ist offensichtlich irreführend. In einigen Fällen handelt es sich bei den Anzeigen um die Bitte eines Herrn um die Rückgabe von Eigentum, also versklavten Menschen. 

Als Historiker sind wir mit dem Problem konfrontiert, wie wir über das Unbekannte und Unaussprechliche sprechen sollen. Ein Großteil dieser Arbeit wird in der Literatur und der Fiktion geleistet. Romanautoren wie Ta-Nehisi Coates oder Toni Morrison thematisieren in ihren Werken die Schrecken der Sklaverei. Wenn also Kultur und Fiktion diese Schrecken heraufbeschwören, versuchen wir, in einer Datenumgebung mit dieser Schwierigkeit  umzugehen.

Dean Rehberger: 

Was wir tun, ist die Zusammenführung von Datensätzen. Die Nutzer*innen können jederzeit zurückgehen und das Original finden. Die Tragödie der Sklaverei ist unbeschreiblich. Das Problem an unserer Arbeit Ist, dass wir vor allem über Aufzeichnungen verfügen, in denen Menschen zu Ware gemacht wurden. Es ist eine große Herausforderung, den Menschen ihre Schicksale wiederzugeben indem wir diese Aufzeichnungen wiederherstellen. Wir könnten diese Daten verschwinden lassen, aber dann würden wir den Menschen und ihren Geschichten nicht Rechenschaft tun. Ich denke also, dass wir unsere Arbeit fortsetzen müssen, aber wir müssen vorsichtig und offen für Kritik sein.

Elisabeth Giesemann: Sehen Sie Enslaved.org als eine Möglichkeit, zum aktuellen politischen Geschehen beizutragen?

Daryle Williams: Jede historische Frage ist ein Produkt ihrer Zeit. So sind wir heute Teil der Bewegung für Racial Justice. Wir wollen zeigen, dass wir in einem System leben, das von Sklaven erschaffen wurde. Die University of Maryland, die Institution, an der ich lehre, wurde durch Sklavenarbeit aufgebaut. Also müssen wir uns irgendwie damit auseinandersetzen. Unsere Frage ist: Wie können wir die Privilegien, die wir haben, für antirassistische Arbeit nutzen?

Dann gibt es außerdem auch die Macht und die disruptive Energie rund um Namen in diesem aktuellen, historischen Moment, wo Big Data uns entmenschlicht und alles in Algorithmen verwandelt wird. Wir interessieren uns für schwarze Menschen, ihre Geschichten, ihre Namen und ihre Vergangenheiten und bauen ihre Geschichten aus den Daten wieder auf. 

Einer unserer Programmierer hat die Sprache von “slave” und “Master” [in der Computer-Software] in seiner Community angesprochen. In der technischen Community werden so Hierarchien und Abhängigkeiten in der Softwareentwicklung dargestellt. Nachdem er an Enslaved.org gearbeitet hat, ging er in seine Community und fragte sie: “Ist das, wo wir sein sollten?” Das ist ein Beispiel dafür, wie wir mit diesem Projekt ein Bewusstsein schaffen können für die Macht, die Rassismus und die historische Entwicklung noch immer auf unser Leben ausüben. 

Dean Rehberger: Ein Grund für die Entstehung dieses Projekts war, dass die meisten Menschen ein sehr eindimensionales Bild von Sklaverei haben: Sklaven gingen aufs Feld, arbeiteten auf der Plantage und starben. Aber das stimmt nicht: Sie bauten dieses Land auf, sie waren hochqualifizierte Arbeitskräfte, sie brachten Technologie aus Afrika mit und sie veränderten die Landschaft. Wir wollen die Geschichte der Komplexität der Versklavung erzählen, aber auch die Schrecken nicht aus den Augen verlieren. Als Historiker geben wir keine einfachen Antworten, sondern wir weisen auf die Komplexität hin. Es gibt so viel mehr, das wir nicht wissen. 

Elisabeth: Bitte erzählen Sie uns ein wenig über die Herausforderungen, mit denen Sie konfrontiert waren, als Sie das Projekt begannen. 

Dean Rehberger: Viele Projekte werden aufgebaut, sind aber nicht nachhaltig. All die Arbeit und die Daten verschwinden nach einer Zeit. Das war auch die Frage, die wir uns gestellt haben: Wie können wir eine nachhaltige, stabile Plattform aufbauen, die weitergeführt werden kann? Und das ist für uns einer der besten Gründe für die Arbeit mit Wikibase. Wikibase hat eine nachhaltige Community. Selbst wenn wir aufhören würden, an Enslaved.org zu arbeiten, würde die Technologie weiter aktualisiert werden. Was ich an Wikibase außerdem wirklich spannend finde, ist, dass Wikimedia Deutschland viel über Daten und die Probleme der Arbeit mit Daten aus verschiedenen Quellen weiß. 

Daryle Williams: Eine Herausforderung liegt auch in der Offenheit unseres Materials und unserer Mission. Es gibt eine Vielzahl von wissenschaftlichen Disziplinen und Arbeitsweisen, die an Enslaved.org beteiligt sind. Aber wir haben auch Interesse von Menschen außerhalb der Wissenschaft, Genealogen oder Einzelpersonen, die nach Familienmitgliedern suchen und nicht die Zeit haben, ihre Arbeit in der gleichen Weise zu überprüfen, wie wir es von Wissenschaftler*innen erwarten. Wir möchten trotzdem, dass sie sich engagieren und ihre Daten beisteuern. Wir müssen also dieses Projekt, das sehr forschungsgetrieben ist und seinen Ursprung in der Hochschulbildung hat, für eine breite Masse öffnen. 

Elisabeth: Haben Sie einen Rat für andere Wissenschaftler, die ein Digital Humanities-Projekt starten wollen?

Dean Rehberger: Sprechen sie unbedingt mit den Leuten, mit Wikimedia Deutschland und anderen Digital-Humanities-Projekten! Oft neigt man dazu, ein Projekt aufzubauen und ungewollt Silos zu bilden. Außerdem kann man sich Rat holen, um sein Projekt nachhaltig zu gestalten. Bei der Auswahl der Technologie ist es auch wichtig, auf Langfristigkeit zu setzen. Denn sie können heute eine tolle Lösung für ihr Problem haben, aber in sechs Monaten könnte die Antwort ganz anders aussehen. Der Schlüssel ist, die Umgebung zu kennen und zu verstehen – nicht anders als in jeder anderen Disziplin. Anders als in den meisten Geisteswissenschaften ist der Aufbau einer solchen Plattform ein kollaboratives Unterfangen. 

Daryle Williams: Die Arbeitskultur kann für die traditionellen Geisteswissenschaftler*in zunächst herausfordernd sein. Wir kommen aus einer Tradition, in der jemand qualifiziert ist mit Primärquellen umzugehen, und in dieser scheinbar magischen Arbeit eine Monographie produziert. Digital Humanities macht die Infrastruktur des Wissens sichtbar, die Archivare, Bibliothekare und Institutionen. Einzelne Autorenschaft und die Brillanz einer einzelnen Person ist nicht das, was Digital Humanities ausmacht. Die Urheberschaft muss geteilt werden, man muss im Team denken. Und wenn man in einem Team arbeitet, ist auch Teammanagement eine wichtige Fähigkeit.

[Das Gespräch wurde editiert]

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Dean Rehberger leitet das Digital Humanities Center MATRIX

Daryle Williams ist Co-Principal Investigator bei Enslaved.org

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